Wir feiern in diesen Tagen das 125 jährige Jubiläum des Sindlinger
Turnvereins. Am 18. Juli 1875 gründeten 14 Sindlinger Einwohner im
ehemaligen Gasthaus „Zum Adler“ diesen Verein und sie gaben ihm den Namen
„Turnverein“. Was uns heute so locker über die Lippen geht und so
geläufig ist, ist doch schon eine eminent programmatische
Weichenstellug, denn die Gründungsväter stellten sich damit in
die Tradition der „Turnbewegung“, was gleichbedeutend mit einer Absage
an den „Sport“ ist. Wenn wir heute diese Begriffe fast deckungsgleich gebrauchen,
so unterschied das 19. Jahrhundert doch scharf zwischen beiden Formen der
Leibesübungen. Das Turnen des 19. Jahrhunderts war nun eng mit einer
Person verbunden, die es schuf und inhaltlich ausgestaltete, nämlich
Friedrich Ludwig Jahn.. Wer war nun dieser Jahn?
Der „Turnvater“ Jahn
Bild „Jahn“
Friedrich Luwig Jahn wurde am 11.8.1778 in Lanz in Brandenburg geboren.
Nach dem Willen des Vaters sollte auch er Pfarrer werden, aber das Gymnasium
in Salzwedel musste er schon nach drei Jahren verlassen. Auch am Berliner
Gymnasium zum Grauen Kloster hielt es ihn nicht lange; er täuschte
einen Selbstmord vor und entschwand. An der Universität Halle nahm
er dann doch das Studium der Theologie auf, interessierte sich aber stärker
für das Leben in den Studentenverbindungen; er interessierte sich
mittlerweile auch eher für die Geschichte und die deutsche Sprache,
wobei er aber nie zu einem akademischen Abschluss kam, weder in Halle noch
in neun anderen Unis, die er – bisweilen nur weinige Monate besuchte. In
Mecklenburg gelang es ihm 1803 als Hauslehrer unterzukommen. Hier schrieb
er an einer sprachwissenschaftlichen Arbeit, die sein wachsendes nationalpolitisches
Engagement verriet. Hier begann auch seine „Jugendarbeit“: jeden Abend
zog er mit 20/30 Jungen ins Freie, um mit ihnen Laufen und Springen, Klettern,
Ringen und Schwimmen zu üben oder wilde Räuber- und Kriegsspiele
zu inszenieren.
1806 wurde er in Jena Zeuge der militärischen Niederlage Preußens
gegen die Franzosen, ehe er 1809 nach Berlin kam, um die Stelle eines Oberlehrers
zu erhalten. Das Prüfungsergebnis fiel aber so miserabel aus, dass
das Ministerium seine Zusage wieder zurückzog.
Nach der Niederlage preußischer Truppen gegen Napoleon erwuchs
auf verschiedenen Bereichen die Ursachenforschung. Als 1806 der letzte
Kaiser sein Amt niederlegte, war damit auch nach außen deutlich geworden,
dass die Prinzipien der Frz. Revolution, so wie sie Napoleon verkörperte,
erfolgreich waren. Die „Nation“ wurde die Schlüsselkategorie. Auf
breiter Ebene begann die Forschung: Was ist das „spezifisch Deutsche“?
Aus den vielfältigen Antworten mögen hier ein paar Hinweise
genügen:
a) Brüder Grimm sammeln die deutschen Märchen und Sagen
b) Wörterbuch der deutschen Sprache
Im Jahre 1810 reihte sich Jahn durch die Veröffentlichung des Buches
„Deutsches Volksthum“ in die Reihe patriotisch-deutsch gesinnter Intellektuelle
ein, die Namen wie Ernst Moritz Arndt, Johann Gottlob Fichte und Friedrich
Schleiermacher umfasste, die für die folgenden Jahre die Ausbreitung
eines Nationalgeistes in besonderem Maße förderten. Diese stimmten
überein:
- So wie die Natur die mannigfaltigsten Lebensformen zulasse, so seien
auch die Menschen als Völker bzw. Nationen mit jeweils unverwechselbaren
Eigenarten ausgestattet!
- Das deutsche Volk sahen sie vor anderen Völkern – besonders
dem französischen Volk – dadurch ausgezeichnet, dass es sich einen
unverstellten Zugang zu seinen ursprünglichen Naturkräften bewahrt
habe. Dadurch könne es als „Stammvolk“ oder gar „Urvolk“ charakterisiert
werden: Es war nun die Aufgabe der Patrioten, der deutschen Nation zu zeigen,
was sie durch Natur geworden sei. Vor allem durch die Sprache und die Kulturgeschichte
hätte sich nach Meinung dieser Wortführer die deutsche Nation
die Verbindung zu ihren natürlichen Lebenskräften erhalten.
- Gesucht wurde nun nach herausragenden deutschen Nationaleigentümlichkeiten,
die als positive Wesensmerkmale der Deutschen in Abgrenzung zu anderen
Nationen herausgestellt wurden; dadurch entstand ein spannungsgeladenes
Nabeneinander der Nationen
- Antifranzösiche Grundstimmung, wohl aus der aktuellen politischen
Situation heraus. Nicht allein Napoleon sah man als Unterjocher Deutschlands,
die französische Nation insgesamt erhob man in die Rolle eines Widersachers
des deutschen Volkes. Den Franzosen wurden Wesenseigentümlichkeiten
zugeschrieben, die sich diametral von den natürlichen Anlagen der
Deutschen unterschieden.
- Die Volkserziehung sei für eine organische Umwandlung von zentraler
Bedeutung; hierzu als ein Instrument: Volksfeste
In Berlin fand Jahn aber jetzt die Szene, in der er seinen alternativen
und unsteten Lebensstil produktiv umsetzen konnte. Es bildeten sich geheime
und halblegale Zirkel, die für die nationale Volkserhebung arbeiteten.
Jahn wurde Mitglied des „Deutschen Bundes“, der auf die Aktivierung breiter
Volksschichten für die nationale Befreiung abzielte.
Die meisten Darstellungen zeigen Friedrich Ludwig Jahn als kahlköpfigen
Turnvater, mit langem Bart. Damit erinnert er eher an einen „Turnopa“,
weise und abgeklärt. Tatsächlich war Jahn 33 Jahre alt und eher
ein „Revoluzzer“, als er am 18.6.1811 (damals Hilfslehrer an einem Berliner
Gymnasium) mit einigen Jugendlichen auf die Hasenheide bei Berlin zog und
dort das begründete, was unter dem Begriff „Turnen“ in die Geschichte
eingegangen ist.
Bild „Hasenheide“
Die Hasenheide war damals ein weitläufiges Gelände außerhalb
der Stadt. Mit Gesang zogen die meist jungen Teilnehmer jeweils an Mittwoch-
und Samstagnachmittagen zum Übungsgelände. .
Der Zweck des Jahnschen Turnens war erstens
die Pflege und Übung des Körpers in einer besonderen, nationalen
und volkstümlichen Form. Er ging davon aus, dass das Turnen Ausdruck
des „Deutschen Volkstums“ sei, also des „Wesens des Volks der Deutschen“.
„Natürlichkeit“ und „Ursprünglichkeit“ wurden zu den Erkennungsmerkmalen
der nationalen Turnbewegung. Das vertrauliche „DU“ in der Anrede, die „Turntracht“
(Jacke und Beinkleider aus grauer ungebleichter Leinwand), Mäßigung
in Ess- und Trinkgewohnheiten (in Pausen nur trockenes Brot und Wasser).
Da die Natur ja nach Meinung Jahns die Gebärerin der Nation war und
diese, wollte sie lebendig bleiben, stets von natürlichen Kräften
durchdrungen sein müsse, glaubte Jahn, dass praktizierte Natürlichkeit
wesentlich zur Begründung eines wahrhaftigen und dauerhaften Nationalgefühls
und-Verständnisses bei den sich anschließenden Schülern
und jungen Männern beitrug.
Turnen war aber auch sogleich
ein Mittel zur Erziehung des Volkes, aller Menschen, die durch gemeinsame
Sprache und Kultur miteinander verbunden seien.
TURNEN - WAS WAR DAS?
Gerade am Anfang betonte Jahn das Spiel. „Laufen und Raufen, Suchen
und Verstecken, Fliehen und Verfolgen“, das war der Inhalt der Bewegungsspiele,
mit denen Jahn offenbar anfing.
„Räuber und Bürger“ war dabei sehr beliebt.
In der Schonung am Turnplatze sind einige geräumige Stellen. Diese
wurden abgeteilt und verteilt zu Burgfesten und offenen Städten. In
den Burgen hausen die Räuber, in den Städten wohnen die friedlichen
Bürger. Bedrückt und gepresst von den Räubern ermannen sich
endlich zur Notwehr die Bürger. Die offene Fehde bricht aus. Dann
schickt nun jeder Theil seine Scharen aus zu Überfall, Angriff und
Fang. Die Gefangenen werden nach den Burgen oder nach den Städten
gebracht und dort bewacht. Das Spiekl endet, wenn auf der einen Seite die
Zahl der Gefangenen so großgeworden, dass der Überrest nicht
mehr sich halten kann, oder wenn die zum Spiel gegebene Zeit vorüber
ist. (Bornemann, 1814).
Es war zweifellos ein wildes Spiel, mit dem Kernstück: Ringkampf
zwischen den Gruppen. Kunstgerechte Ringkämpfe waren dabei wohl die
Ausnahme: Die Anführer sollen darauf achten, dass das Spiel nicht
in ein bloßes Balgen ausartet, doch sehr erfolgreich waren diese
Anweisungen wohl nicht. D.H. Jahn turnte nicht gegen Frankreich, er spielte
gegen Frankreich.
Dann entwickelte sich schnell das planmäßige Üben, bei
dem der Lauf eine gebührende Rolle einnahm. Ein gemeinsamer Dauerlauf
leitete die Massenübungen ein; dann wurde einzeln frei geübt,
und zwar das Laufen in vielerlei Formen, zunächst auf der Stelle und
dann schnurrecht über die 200 Fuß, also ca. 60 m lange Bahn,
einfache, doppelte Strecke und auf die Dauer, dann schlängelnd, im
Zick-Zack, im „Kiebitz – Lauf“, rückwärts, und stürmend
den Berg hoch. Dabei war auch die Armhaltung vorgeschrieben: Oberarm nahe
am Leibe – Ellenbogen hintenaus, nur die Unterarme dürfen sich bewegen.
Für diese Sprungübungen stand ein keilförmiger Graben
zur Verfügung, der mit oder ohne Stange übersprungen werden musste.
Je nach den Fertigkeiten der Übenden konnte so eine größere
oder geringere Sprungweite gewählt werden. Hochspringen wurde an einem
von Jahn "Springel" getauften Gerät geübt. ein mit eisernen Spitzen
zum Einstoßen in den Sand gebauter Sprungständer (Springel),
dazu ein Seil mit Sandsäckchen. Voltigierböcke dienten dem Voltigieren,
einer Übung, die seit dem Mittelalter zur Ausbildung von Rittern und
Reitern gehörte und auch noch zu Jahns Zeit als wichtige Übung
für Soldaten galt. Vorübungen zum Voltigieren, Jahn erfand dafür
den deutschen Begriff Schwingen, sollten auf speziellen Gerüsten,
auch Barren genannt, erfolgen. Weitere Geräte waren Reck und ein 11
m langer Schwebebaum mit schwingenden Enden. Im Jahnschen Turnen spielte
das Balancieren wegen seiner militärischen Bedeutung eine wichtige
Rolle. Am auffälligsten waren auf der Hasenheide die hohen Kletterbäume
und -gerüste mit Leitern, Stangen und 9 m langen Tauen, die Wagemutige
zu halsbrecherischen Klettereien verführten.
Recht nachdrücklich wurden auch Kraft-Übungen betrieben:
Gewicht- und Sandsackheben, das Stabziehen, Tauziehen, Nackenziehen, das
Tragen von Gewichten und Menschen, Stein- und Kugelstoßen ( 6 – 24
Pfund).
Die Gerätübungen standen ebenso wie die volkstümlichen
Übungen und die Spiele im Dienst der Charakterbildung und der Wehrerziehung,
die, nachdem sich die preußischen Söldner den französischen
Bürgerheeren als unterlegen erwiesen hatten, auch von den Behörden,
wenn auch aus Angst der "Volksbewaffnung" nur halbherzig, unterstützt
wurde. So betonten die Turner immer wieder die Bedeutung verschiedener
Übungen für die Wehrerziehung, Bornemann bezeichnete z.B. die
Beherrschung des Schwimmens als unverzichtbar für ein Heer, da schwimmkundige
Soldaten stets eine "unsichtbare Brücke" mitführen. Typisch
für das Jahnsche Turnen war die Betonung der militärischen/staatspolitischen
Brauchbarkeit. Was nützte es auch dem Soldaten, wenn er als erster
auf dem Schlachtfeld ankommt, aber zu erschöpft ist, um zu kämpfen.
Soldatischen Drill lehnte John allerdings grundsätzlich ab. Turnen
sollte die „verloren gegangene Gleichmäßigkeit der menschlichen
Bildung wieder herstellen, der bloß einseitigen Vergeistigung die
wahre Leibhaftigkeit zuordnen, der Überfeinerung in der wieder gewonnenen
Männlichkeit das notwenige Gegengewicht geben, und im jugendlichen
Zusammenleben den ganzen Menschen umgfassen.“
Das Berliner Journale berichtete 1812: „Während andere viel über die Militärausbildung räsonnieren,
schreiben, schreien und plappern, hat hier ein Schulmann ganz in der Stille praktisch gezeigt, wie man die
Jugend für den Krieg geschickt macht. Dies geschieht nicht, wie es in den Kadettenhäusern noch
eingeführt ist, lediglich durch Exerzieren mit dem Gewehr und mit dem harmonischen Marschieren: Richt
euch! Rechtsum, Front! Präsentierts Gewehr; `s Gewehr bei Fuß – sondern dadurch, dass man die Kraft der
Muskeln durch übung vermehr und Beweglichkeit oder Geschwindigkeit hinein bringt. Durch das
bisherige gleichförmige Treten, Brustherausstrecken, Unterleibeinziehen, wurden die Muskeln steift
gemacht. Wenn die Jugend erst im Klettern, Springen, Lastentragen, Gleichgewichthalten, im Ringen,
Laufen, oder im kleinen Kriege geübt ist, so wird sie auch leicht schießen und treffen, marschieren,
schwenken, Linie halten lernen“.
Um den Nationalsinn unter den Berlinern Turnern zu entfachen und ihn
wachzuhalten, hielt Jahn vor den Turnern kurze nationale Ansprachen oder
er las aus patriotischen Werken vor. Zu diesem Zweck kamen die Mitglieder
während der Turnpausen auf dem „Tie“ zusammen, einer separaten Versammlungs-
und Kommunikationsstätte inmitten des Hasenheide-Turnplatzes. Auch
individuelle Gespräche mit den „Elite-Turnern“ führte Jahn, um
sie nationalideologisch zu schulen.
Weiteres Merkmal waren die patriotischen Lieder. Nicht nur bei Turnfahrten,
auch im Alltag kam dem patriotischen Lied eine besondere Bedeutung zu.
Die Turnbewegung war die erste organisierte Bewegung in Deutschland, die
über den patriotischen Gesang die ihr innewohnende nationale Gesinnung
zum Ausdruck brachte, eine Richtung, die später die Männergesangvereine
übernahmen. Jahn hatte schon 1813 den propagandistischen Wert dieser
Lieder im Rahmen eines öffentlichen, national-deutschen Stimmungen
erzeugenden Aktionismus erkannt und Lieder nationalen Inhalts auf verschiedene
Weise für die nationale Agitation nutzbar gemacht. Jahn ließ
unter dem Titel „Deutsche Wehrlieder für das königlich-preußische
Frei-Corps“ 12 von verschidenen Autoren verfasste patriotische Liedtexte
mit den dazu gehörenden Melodien verbreiten. An der Spitze stand:
„Was ist des Deutschen Vaterland?“ (Arndt)
Bild: Text (Arndt)
Darüber erweckte Jahn auch bei den Turnern Begeisterung, ohne dass
es zu eigenständigen Sängerabteilungen kam. In den Liedern wurde
häufig nationales Geschichtsbewusstsein vermittelt. Der historisch-legendären
Gestalt, dem Germanenfürsten Hermann wurde dabei eine absolute Vorrangstellung
zuteil. Dazu kamen Heinrich I.,der Reichsgründer, Otto der Große,
Rudolf von Habsburg, Kaiser Maximilian, Luther, Tell, Schiller und Andreas
Hofer, die als Garanten deutscher Leistungsfähigkeit herausgestellt
wurden: deutscher Sinn, deutsche Art, deutscher Fleiß und deutsche
Treue als zentrale Kriterien, die auch bei Dürer und Hans Sachs gepriesen
wurden.
Schließlich sollten auch die Turnfahrten, die ein integrierter
Bestandteil des Turnkonzepts waren, dazu genutzt werden, das Vaterland
kennen zu lernen und Vaterlandsliebe zu wecken.
Das Ziel Jahns war also die Kräftigung des Volkes und der Nation,
um die Franzosen auch militärisch aus eigener Kraft und ohne die Armeen
der Könige und Fürsten besiegen zu können.
Träger dieser frühen Nationalbewegung waren hauptsächlich
Studenten. Sie machten das Jahnsche Turnen zunächst an den Universitäten,
den Zentren der frühen Turn- und Nationalbewegung in Deutschland bekannt.
In ganz Deutschland bestanden 1818 rund 150 Turngesellschaften mit ca.
12000 Mitgliedern, davon zwei Drittel in Preußen. Das Turnen orientierte
sich fast ausschließlich am Modell Hasenheide; oft wurde es von Lehrern
geleitet und war mit einer Schule verbunden.
Aus den Turnern formierte sich aus zunächst neun erwachsenen Turnern
ein beratendes Gremium, das Jahn in seiner Funktion als Leiter der Turngesellschaft
erheblich entlastete. Es legte sich die Bezeichnung „Turnrath“ zu und erörterte
allwöchentlich zur festgesetzten Zeit nicht nur Turnkunst-Fragen,
sondern auch, wie der deutsch-patriotische Gesang unter den Turnern zu
verbreiten sei. Er stellte außerdem die "Turngesetze“ auf und wählte
die „Vorturner“.
Zu den „Gesetzen“ zählte die „nationale Dienstverpflichtung“:
Man dürfe nie verhehlen, dass es des „Deutschen Knaben und Deutschen
Jünglings höchste und heiligste Pflicht sei, ein „Deutscher Mann
zu werden, um für Volk und Vaterland kräftig zu wirken.“. Außerdem:
Wer wider die Deutsche Sache und Sprache freventlich oder verächtlich
handele, mit Worten oder werken, heimlich wie öffentlich, der müsse
ermahnt, verwarnt und gegebenenfalls vor jedermann vom Turnplatz verwiesen
werden. Keiner dürfe zur Turngemeinschaft kommen, der wissentlich
Verkehrer der Deutschen Volkstümlichkeit ist und Ausländerei
liebt, lobt, treibt und beschönigt.“
Folglich kämpften Turner in den „Befreiungskriegen“ gegen Napoleon
mit, Jahn selbst war Kommandeur im Lützower Freicorps, wo man seine
Vorgesetzten selbst wählte. Aber er erwies sich als ungeeignet für
die hier geforderte Disziplin. Darum schied er wieder aus und reiste als
Agitator für die Volkserhebung durch Deutschland.
Nach dem Krieg fand Jahn die Anerkennung, die er lange vermisst hatte.
er erhielt ein dauerndes Jahresgehalt, den Ehrendoktor zweier Universitäten,
konnte nun endlich heiraten und hatte die Möglichkeit, das Turnen
weiter auszubauen. So erschien 1816 sein Buch „Deutsche Turnkunst“.
Er begeisterte seine Gefolgsleute aber nicht nur für das Turnen,
sondern auch für seine pädagogischen und politischen Zielsetzungen:
für die Volkserziehung, Freiheit der Rede, die politische Mitbestimmung
des Volkes in einer Verfassung und Einheit des Vaterlandes.
Auch die Verengung des Turnens auf das Geräteturnen war nicht
Jahns Idee. In seinem Buch „Turnkunst“ zeigte er die Vielfalt der damals
bekannten Leibesübungen mit Laufen, Werfen, Springen, Ringen, Fechten,
Schwimmen usw. Erst die „Turnsperre“ (1819-1842) führte zur Verengung
auf das heimlich betriebene Geräteturnen. Das kann man aber nicht
Jahn anlasten.
Während GuthsMuths ausführliche medizinische Begründungen
für die Gymnasitk vorlegte, findet man bei Jahn außer den Kleidervorschriften
davon nichts., was das Turnen in hygienischer oder medizinischer Sicht
begründet. Dieses Weglassen brachte auch die Turnkritiker auf den
Plan. Der Berliner Professor Wadzeck deutete das Turnen als gesundheitsschädliches
Unternehmen. Als besondere Schädigungen glaubte Wadzeck 1817 erkannt
zu haben: Verbildungen in Adern und Herzen, Gehirn- und Rückenmarkserschütterungen,
Geistesschwäche, heftige Muskulaturanstrengungen usw. Allerdings wehrte
eine der preußische Medizinalrat von Koenen in einem ebenfalls 1817
vorgelegten Bericht alle Befürchtungen ab.
Obwohl in den Quellen und in der Sekundärliteratur immer wieder betont wird, dass der Turnplatz allen zugänglich war und "als Tummelplatz für die gesamte Bevölkerung und als Sammelpunkt des ganzen öffentlichen Lebens gedacht" war, wurde unter der "gesamten Bevölkerung" nur die eine, die männliche Hälfte der Menschheit verstanden. Im "Standardwerk" der Turner, der "Deutschen Turnkunst", werden Mädchen und Frauen nicht ein einziges Mal erwähnt. In seinem Buch über das deutsche Volkstum meinte Jahn im Zusammenhang mit seinen Vorschlägen zur Mädchenerziehung,die ganz den geschlechtsspezifischen Normen der Zeit entsprachen, dass auch das "schwache Geschlecht" mäßige und weibliche Leibesübungen betreiben solle. Er empfahl besonders das Eislaufen, das Fechten lehnte er dagegen ab, da es den milden Blick "verstiere". Seine Empfehlungen wurden allerdings nicht in die Praxis umgesetzt. Erst als in der Zeit der Turnsperre der gesundheitliche Wert der Leibesübungen einen neuen Stellenwert erhielt, wurden die ersten Turnkurse für Mädchen, deren Gesundheit besonderer Pflege zu bedürfen schien, angeboten.
Ab 1814 gelten die Turnfeste auch als Nationalfeste, auf denen die emotional-sittlichen
Bedürfnisse zu ihrem Recht kommen sollen, mit patriotischen Liedern
und Ansprachen). Jahn schlug vor, jedes Jahr deutsche Nationalfeste am
„Tag der Hermannsschlacht“, am „Tag der Schlacht bei Merseburg“ (933 zw.
Heinrich I. und den Ungarn) und am „Tag des Religionsfriedens“ (25.9.1555)
zu veranstalten. Zur Ausgestaltung riet er: Am Vorabend sollten auf Anhöhen,
Hügeln und Bergen“ Feuer angezündet werden „gleich dem Oster-
und Johannisfeuern“. Am Festtag selbst könne man Gemeindehäuser,
Tore und Türme schmücken und mit Fahnen versehen. Die Festteilnehmer
sollten sich zum Anhören der Predigt versammeln, denn vermittels der
Nationalfeste müsse es endlich auch wieder gelingen, Staat und Kirche
zum Besten des Volks in gemeinschaftliche Wechselwirkung zu setzen. Die
Jugend solle sich in Wettspielen und die Landwehr im Gebrauch der Waffen
üben. Aber auch Tanz und Schauspiel gehörten zum Nationalfest.
Insgesamt dachte Jahn an eine dreitägige Feier.
Bei einem Treffen national-deutscher Patrioten aus Hessen in Rödelheim
– unter Teilnahme Jahns – propagierte man eine erste nationale Feier für
den 18. Oktober 1814, dem Jahrestag der Leipziger Schlacht. Und tatsächlich
setzten sich auch Publizisten für diesen Plan ein, so dass in einer
großen Zahl von Gemeinden am 18. und 19. 10. Feierlichkeiten abgehalten
wurden. Die Feiern wurden z.T. sogar von kommunalen Behörden arrangiert
und unterstützt.
Auch die Berliner Turngesellschaft veranstaltete eine Gedenkfeier.
Sie begann am Abend des 18. Oktober: Aif der Spitze des 65 Fuß hohen
Kletterturms leuchtete ein Signalfeuer; auf der Erde wurden ebenfalls Feuer
entzündet, bei dessen auflodernder Glut die Turner patriotische Lieder
anstimmten. Am folgenden Tag hielten die Turner ein Schauturnen ab, das
gleichzeitig den Abschluss des Sommerturnens auf der Hasenheide bildete.
10 000 Zuschauer sollen übrigens dem Spektakel beigewohnt haben. Patriotische
Gesänge, ja auch religiöse Lieder kamen dazu. Fackelzug, das
Anbringen von Eichenlaubschmuck an den Turngeräten und das Umwinden
der Köpfe der Turner mit Eichenlaub waren weitere Gestaltungsmerkmale.
Diese Festlichkeiten zeugen von der starken patriotisch-deutschen Begeisterung,
die in den Jahren 1813/14 große Teile der deutschen Bevölkerung
ergriffen hatten. Dieser Enthusiasmus war gepaart mit der Freude darüber,
die französischen Heere endgültig besiegt zu haben. Allerdings
zeigte sich bereits ein Jahr später, dass nach Beseitigung dieser
Bedrückung die breite Begeisterung nachließen. Ohne die Turner
hätte es wahrscheinlich 1816 und 1817 keine Feiern mehr gegeben. Die
Turner hatten aber die Organisation dieser Feste zu ihrer Sache gemacht.
Bis zu ihrem Verbot 1819/20 war die Turnbewegung fast alleiniger Veranstalter
dieser öffentlichen, sich durch ein differenziertes Ritual auszeichnenden
Feste. Ja, ohne eine nationale Bewegung, der in vielen deutschen Gemeinden
organisierte Gruppen angehörten und deren Mitglieder sich in der Regel
durch einen deutschen Patriotismus auszeichneten, der nicht allein durch
Gefühlsaufwallung, sondern konstante, von starken Emotionen begleitete
Gesinnung war, wäre ein alljährliches Feiern der Feste unmöglich
gewesen. Die Turner haben zwischen 1814 und 1819 dieses nationale Ritual
ausgebildet.
Gefährlicher als die vorhin erwähnten medizinischen Einwände
waren dagegen die politischen Angriffe gegen das Turnen und die Burschenschaften,
die nach dem Wartburgfest 1817 einsetzten. Dort wurde „die deutsche Eiche“
Ersatz für den ehemaligen Freiheitsbaum der Frz. Revolution; die Trikolore
zur Nationalfahne schwarzrotgold. Auch ließen sie sich die Haare
zu demonstrativen Mähnen wachsen und trugen die schwarze altdeutsche
Tracht. Statt höfischer Zierlichkeit bevorzugten sie den von Jahn
geprägten rabiaten bäuerlichen Umgangston. Sie sprachen sich
mit dem brüderlichen Du an: „Wir wissen nichts von arm und reich,
von Titel, Rang und Stand. Turnbrüder sind sich alle gleich, ihr Gut
heißt Vaterland“!Es ist zwar nicht geklärt, ob die Idee der
Bücherverbrennung auf diesem Fest von Jahn selbst stammte, sie wurde
aber zumindest in Turnerkreisen geboren. Aus Protest gegen die Feudalfürsten
warf man bei diesem Fest einen preußischen Schnürleib, einen
österreichischen Koproralstock und einen hessischen Militärzopf
ins Feuer. Zudem warf man 28 Pakete mit aufgemalten Buchtiteln ins Feuer,
Bücher, die als undeutsch, als turnfeidlich galten. So wurde auch
der von Napoleon eingeführte Code Civil verbrannt, wohl ein Zeichen,
dass das Nationale bei der Aktion überwog.
Die Feste bekamen auch einen stärker politischen Gehalt: So hielt Carl Völker am 18.10.1818 folgende Rede: „Das Volk blickte sehnsüchtig auf den erneuerten Bundestag und erwartete viel von den Herrschern, sie sollten sein die waltende Macht, die aus dem wilden, verworrenen Deutschlandeine neue kräftige Gestalt bildete. Von ihnen erwarteten wir ein deutsches Reich, die Wiederherstellung freier ständischer Verfassung, denn es ist ein angeborenes menschenrecht, also auch angeborenes Recht des deutschen Volkes; ohnbe ständische Verfassung kann der kräftige Geist, der jene Schmach der Wälschen von uns abwälzte, nicht gebährt und erhalten werden. Noch erwarteten wir von ihnen die unumschränkte Presse- und Rede-Freiheit, die Pflegemutter stolzer Tugend und Herrlichkeit; ferner Abschaffung dessen, was den freien Verkehr des Volkes hindert, also seine Bildung und Entwicklung hemmt. Dies waren und sind die Wünsche des Volkes. Es wird eine Zeit kommen des Erwachens, wo das blutgoldne Morgenrot durchdringt durch die Finsternis. Erheben müssen wir unjs gegen Knechtschaft und Zwingherrn-Druck und uns nicht fürchten vor den vielen falschen Propheten, die die Welt bedrücken durch Aberwitz. Wir sollen hervorrufen die Kraft, welche in unseren mächtigen Gliedern wohnt, dann werden die Berge zittern und die Sträöme austreten aus ihren Ufern. Wir werden uns fühlen als Deutsche, als Brüder, die alle einem Ziel zustreben, die heiloige Glut entflammt für das Vaterland.“
Das Wirken der patriotischen Propagandisten auf die Jugend und Studentenschaft
war schon 1815 als staatsgefährdend eingestuft worden, obwohl man
die Leibesübungen durchaus als nützliche Vorbereitung zum Wehrdienst
anerkannte. Die private Organisation der Turner, ihre Turnfeste und Turnlieder,
waren hingegen nicht erwünscht.
Für den preußischen König war es schon Anfang 1819
klar, dass die wahrnehmbaren Spannung ein deutliches Zeichen dafür
seien, dass man die Jugend zu früh zu einer Teilhabe am öffentlichen
Leben veranlasst habe. Diese nachteiligen Folgen hätten sich namentlich
bei dem Turnwesen gezeigt. So wurde Mitte März 1819 die Wiedereröffnung
der Hasenheide mit Polizeieinsatz unterbunden.
So nutzte der preußische Staat das Attentat, das der Tübinger
Theologiestudent, Burschenschaftler und Turner Sand am 23. 3. 1819 an dem
russischen Diplomaten und Dichter August von Kotzebue verübte, um
die Turnplätze zu schließen. Jahn dazu: „Mein Freund Sand
hat den Kotzebue ermordert. Die Tat kann christlicher Weise nicht gebilligt
werden, aber der Täter ist gewiss rein vor Gott und seinem Gewissen,
er wollte die Morgenröte wecken, wie er bei seinem Abgange hebräisch
an seine Türe in Jena geschrieben. Den noch lebenden deutschen Heldenmut
und den Hass gegen die Verräter wollte er zeigen, darum wählte
er einen Nichtswürdigen, wenn auch nicht den schlimmsten, und wollte
sich selbst den Tod geben.“
Jahn selbst wurde am 14.7. verhaftet und bis 1825 inhaftiert.
Für die nachfolgende Zeit (ab 1820)wurde eine Turnsperre verhängt,
die insb. in Preußen rigide verfolgt wurde.
Dagegen wurden zunächst noch Pläne zur Einführung von
Leibesübungen als Schulfach betrieben: „Zu Folge einer von Seiner
Majestät unter dem 7ten d.M. den unterzeichneten Staats-Minister erlassenen
Allerhöchsten Kabinetts-Ordre soll das Turnen, insoweit es als bloße
Leibes-Übung zur Ausbildung, Entwicklung und Stärkung der köperlichen
Kräfte dient, und sich in den zur Erreichung dieses nützlichen
Zwecks notwendigen Schranken hält, der Schule untergeordnet, auch
fernerhin im Preußischen Staate gestattet werden“.
Im Januar 1820 dann aber: „Das Turnen ist nur als Leibes-Übung
zu behandeln und folglich nur in so weit zu treiben, als es zur Ausbildung,
Entwicklung und Stärkung der körperlichen Kräfte dienen
kann.. Dieser alleinige Zweck der Turnübungen muss in allen Beziehungen
mit der strengsten Folgerichtigkeit festgehaltgen und daher alles, was
mit denselben in keinem notwendigen Zusammenhang steht, aus dem Turnwesen
entfernt werden. Besonders sind diejenigen Anordnungen, Gebräuche
und Einrichtungen des bisherigen Turnwesens, welche eine anderweitige Richtung
der Jugend bezweckten, fortan ganzlich zu beseitigen. Namentlich gilt dieses
von den bisherigen Turngesetzen und Turn-Gebräuchen, von den Turn-Festen,
Turn-Fahrten und Turn-Liedern, als solchen und insoweit sie bestimmt sind,
die Turnjugend als eine abgesonderte Genossenschaft darzustellen."
Turnsperre aufgehoben ab 1842
Erst 20 Jahre später erlebte das Turnen einen erneuten Aufschwung.
1842 wurde die "Turnsperre" aufgehoben und das Turnen als "notwendiger
und unentbehrlicher Bestandteil der männlichen Erziehung" in den Fächerkanon
der höheren Knabenschulen Preußens aufgenommen.
Die "Verschulung" des Turnens
1 842 wurden die Leibesübungen in Preußen "als ein notwendiger
und unentbehrlicher Bestandteil der männlichen Erziehung förmlich
anerkannt und in den Kreis der Volks-Erziehung aufgenommen". Es war
vor allem die Sorge um die Volksgesundheit und um den Offiziersnachwuchs,
die dem Turnen, das jetzt, um politische Assoziationen zu vermeiden, wieder
Gymnastik genannt wurde, den Weg in die höheren Knabenschulen ebnete.1'
Im Schulturnen hatten politische Ziele und Ansprüche nichts zu suchen,
Disziplin und Ordnung waren die u.a. von Spieß propagierten Leitlinien.
Die "Verschulung" des Turnens veränderte auch die Inhalte und die
Vermittlungsformen grundlegend: Klettern und Tummeln, volkstümliche
Übungen und Spiele hatten in den neu errichteten Schulturnhallen keinen
Platz, dafür wurden Freiübungen nach militärischem Kommando,
Ordnungsübungen, d.h. exerzierähnliche Aufmärsche im Klassenverband,
und Reigen (Ordnungsübungen mit Musikbegleitung) eingeführt.
Grundsätzlich standen Gemeinübungen - die gleichen Übungen
wurden von der ganzen Klasse möglichst gleichzeitig ausgeführt
- im Mittelpunkt der Turnstunden. Die Bemühungen, das Turnen wissenschaftlich
zu begründen und anderen Schulfächern anzugleichen, führte
zu einer Systematisierung des Übungsstoffes und einer Zergliederung
motorischer Handlungen in elementare Einzelbewegungen und insgesamt zu
einer "Übertülle des elementaren Übungsstoffes und bewegungsmechanischer
Künstelei", die in der Folgezeit zum sogenannten Gliederpuppenturnen
ausartete. Wie das Bedürfnis nach rationaler Begründung und systematischer
Gliederung des Stoffes nicht nur im Turnen aus dem in dieser Zeit verbreiteten
Streben nach Rationalität und Wissenschaftlichkeit zu erklären
ist, so entsprachen die Werte, Normen und Ziele des Turnunterrichts - Beherrschung
des Körpers durch den Geist, Zucht und Ordnung - der vom Obrigkeitsstaat
geforderten Erziehung zum Untertanen. Die Zeitgenossen hielten das System
von Spieß durchaus für progressiv, da es den geltenden pädagogischen
Leitlinien entsprach und geeignet war, große Klassen auch bei schlechter
Geräteausstattung und ohne Gefahr von Verletzungen und Unfällen
zu beschäftigen.
In den 40er Jahren kam es in Europa zu wirtschaftlichen Krisen,
einer Verbreitung liberaler Bestrebungen und zu politischen Unruhen. Auch
in den 39 Einzelstaaten des Deutschen Bund wurden die Forderungen nach
politischen Rechten und nach nationaler Einheit immer lauter. In dieser
Phase des Aufbruchs waren die Ziele und Ideen des Turnens wieder aktuell.
Es begann eine Phase der Vereinsgründungen und die Turnvereine wurden
zu Zentren politischer Diskussionen und Aktivitäten. Ein auffallendes
Merkmal dieser Turnvereine war ihre veränderte Zusammensetzung: Handwerker
und Kaufleute, unterstützt von Lehrern, Pfarrern und Beamten. Die
Turnvereine dieser Zeit sind Ausdruck der Lebensverhältnisse dieser
Handwerksgesellen. Sie gründen Turnvereine mit festen Satzungen, die
häufig bei ihren Wanderungen Anlaufstationen waren; Bekanntschaften
wurden dann bei den Turnfesten geschlossen. Eine hervorragende
Gelegenheit, zusammenzukommen, Ideen auszutauschen und Pläne zu schmieden,
boten die zahlreichen Turnfeste, die in den 40er Jahren u.a. in Reutlingen,
Heidelberg, Bingen, Heilbronn und Frankfurt durchgeführt wurden. Im
Mittelpunkt dieser Feste standen nicht nur die Turnwettkämpfe, sondern
auch politische Diskussionen und Deklamationen, die meist mit der Forderung
nach "Freiheit und Gleichheit" endeten. Neben der Entwicklung und Kräftigung
der körperlichen Anlagen war ein wackerer deutscher Sinn und Reinheit
der Sitten zu erstreben, zu bewahren und zu verbreiten. Wer sich der Unmäßigkeit
und dem Spiel ergab, wurde durch Beschluss des Turnrats und mit Zustimmung
der Gesellschaft ausgeschlossen. Desgleichen wer nicht schwelgerischen
Genüssen des Lebens entsagen konnte und seine körperliche
Kraft nicht dem Erwerb derjenigen Eigenschaften widmete, welche der Mann
im umfassendsten Sinne der Wortes haben sollte. Damit war gemeint: Selbstverpflichtung
des einzelnen zur Einhaltung einer besonderen, bürgerlichen Tugend
und Moral in Denken und Verhalten: Gleichheit und Brüderlichkeit,
Sittlichkeit und Anständigkeit, Einhalten von Regeln, die für
alle gelten sollten und schließlich „Wehrhaftigkeit und Stärke,
um die Sache des Volkes und der Nation auch gegenüber möglichen
Feinden durchsetzen zu können.
Auf dem Heilbronner Turnfest formulierte es Flaigg so: „Der großartigen
Erhebung Deutschlands folgte eine Erschlaffung. Die Kraftübungen wurden
unterdrückt wegen der Kraftäußerungen. So unterblieben
denn die Turnübungen; Barren, Reck und Klettergerüst verfaulten
ungebraucht, verschlämmt im Sande lag der Springgraben, aus den Löchern
des Schwingels sah das Rosshaar hervor; mit einem Wort, die Turnplätze
lagen brach, aber nur um eine neue, vermehrte Zeugungskraft zu sammeln
wie des Landmanns Brachfeld.“
(Auf dieser Versammlung wurde übrigens das bis heute gültige
Symbol der Turner verabschiedet: die vier F: frisch – fromm – fröhlich
– frei, in Form eines deutschen Kreuzes; auch das „Gut-Heil“ soll hier
erfunden worden sein)
Die Behörden reagierten auf die Politisierung der Turner mit Kontrollen,
Verboten, teilweise auch mit der Auflösung von Vereinen. Besonders
verdächtig waren die sogenannten Maulturner, die sich nicht an den
Übungen beteiligten und die Turnvereine häufig nur als politische
Bühne nutzen wollten.
Erster Deutscher Turntag 1848 in Hanau
Mit dem Wachsen der Turnbewegung wuchs auch der Wunsch nach einem Zusammenschluss.
Schon seit 1842 waren Pläne zur Gründung einer Deutschen Turnerschaft
entwickelt und auch einige regionale Vereinigungen gegründet worden.
Die ersten Schritte wurden bereits 1846 auf einem Turnfest in Heilbronn
eingeleitet, an dem 1175 Turner aus vielen deutschen Gauen teilnahmen,
die in 38 Männer- und 16 Knabenriegen zum Wettkampf antraten. In Heilbronn
vergaben die Turner ihr nächstes Turnfest nach Frankfurt; hier turnten
sie vom 31. Juli bis 2. August 1847 nicht nur, sie fassten auch wichtige
Beschlüsse, die die gesellschaftliche Stellung der Turnvereine betrafen.
So wurde die Gründung freiwilliger Feuerwehren beschlossen, die damit
anerkannt wurden. Daneben war Frankfurt aber auch der Startschuss für
eine Radikalisierung der Turner: Die Mannheimer Turner unter Gustav Struve
legten einen Antrag vor, dass eine Allg. deutsche Turnerschaft den Zweck
haben solle, zum Sturz der Tyrannei, zur Begründung der Freiheit und
zur Sprengung der Willkür beizutragen: Waffen-Depots sollten ebenfalls
angelegt werden, und jeder Turner sollte einen Eid schwören, für
des Vaterlandes und der Freiheit Wohl nicht Tod noch Kerker zu scheuen.“
Diese Vorschläge fanden aber wenig Zustimmung.
Die republikanisch gesinnte Hanauer Turngemeinde griff unter ihrem
Vorsitzenden August Schärttner die Einigungsbestrebungen auf und lud
die deutschen Turnvereine zu einem Turntag am 2. April 1848 ein. „Der Umschwung
der Dinge in unserem deutschen Vaterland hat dem deutschen Turnwesen neuerdings
die Bahn geöffnet, ihren Beruf „Entwicklung und Kräftigung eines
echten deutschen Volksthums“ frei zu verfolgen“, hieß es in dem Aufruf.
„Um aber diesem Berufe mit sicherer Aussicht auf Erfolg leben zu können,
ist es nöthig, dass alle Turngemeinden Deutschlands sich zu diesem
e i n e n Ziele vereinigen und nach e i n e m Plane gemeinschaftlich
handeln.“
Der Termin war klug gewählt, denn am 31. März wurde in Frankfurt
das Vorparlament eröffnet, das die Berufung einer deutschen Nationalversammlung
in die Wege leiten sollte. Mitglied dieses Vorplarlaments war auch Friedrich
Ludwig Jahn, der bei Schärttner Quartier nahm.
Mit Fahnen, Trommeln und Pfeifen gaben die Hanauer Turner Jahn und
den Hanauern Mitgliedern des Vorparlamnets das Geleit nach Frankfurt. Dieser
demonstrative Auftritt sorgte für erhebliche Unruhe, ja zu Straßenkämpfen
mit Antirepublikanern.
Am folgenden Sonntag zogen die Turntag-Teilnehmer zum Hanauer Marktplatz,
vereinigten sich dort mit der Bürgergarde, Schützenkops und Freikorps
zu einem prächtigen Festzug und marschierten mit Musik zur Wallonisch-Niederländischen
Kirche, in der die Versammlung stattfand. Den Vorsitz führte Jahn.
Dabei gründeten die Delegierten aus 40 Turnvereinen den Deutsche Turnerbund
gegründet, der es sich zum Ziel setzte, "für die Einheit des
deutschen Volkes tätig zu sein, den Brudersinn und die körperliche
und geistige Kraft des Volkes zu heben." Zum „Vorort“ wurde Hanau gewählt,
was damit die Führung im Bund übernahm. Über den wichtigsten
Punkt auf der Tagesordnung, über das "politische Glaubensbekenntnis",
sprich die Anerkennung der Republik, konnten die versammelten Turner allerdings
keine Einigung erzielen. Darauf zogen die republikanischen Turner aus und
schlossen sich teilweise dem Heckerschen Aprilaufstand an, der allerdings
nach wenigen Tagen von Truppen des Deutschen Bundes niedergeschlagen wurde.
Daher beriefen die Hanauer Turner einen zweiten Turntag für den 2.
und 3. Juli 1848 ein, auf dem erneut die Frage der politischen Zielsetzung
im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen stand. Der Antrag, die Republik
als Regierungsform anzustreben, fand auch jetzt keine Mehrheit, vor allem,
weil auch manche republikanisch gesinnte Turner Politik und Turnen getrennt
wissen wollten. Die unterlegene Minderheit wollte diesen Beschluß
jedoch nicht akzeptieren, sie trat aus dem Deutschen Turnerbund aus und
gründete den „Demokratischen Turnerbund“ mit Sitz in Hanau und Schärttner
als Sprecher. Zweck dieses Bundes war es, "durch körperliche und geistige
Ausbildung und Verbrüderung aller Deutschen hinzuwirken auf ein freies
und einiges Vaterland, welches in dem volkstümlichen Freistaat - der
demokratischen Republik - seine Entsprechung findet". Der Demokratische
Turnerbund hatte überwiegend in Südwestdeutschland und in Sachsen
seine Anhänger, dem Deutschen Turnerbund gehörten vor allem Vereine
in Nord- und Nordwestdeutschland an. Dementsprechend nahm er zunächst
Marburg, dann Leipzig als Vorort.
Bei dem vergeblichen Versuch in Eisenach, doch noch eine Einigung der
Turner zu erreichen, wurde Mitte 1849 ein dritter Verband, der Allgemeine
Deutsche Turnerbund, mit dem Ziel, "die Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit
des einigen deutschen Volkes zu erstreben", ins Leben gerufen. So dauerte
es 20 Jahre, ehe schließlich 1868 die Deutsche Turnerschaft gegründet
wurde, Vorgängerin des Deutschen Turnerbundes, der seit 1950 besteht
und zu pfingsten 1952 seinen ersten Turntag an historischer Stelle, nämlich
in Hanau, feierte.
Nationalversammlung Paulskirche Frankfurt 1848
Nach den Erfolgen der liberalen Bewegung im März 1848 glaubten
die Turner, ihre Träume und Ziele verwirklichen zu können. Die
Zugeständnisse der Fürsten und die Einberufung der Nationalversammlung
in die Paulskirche nach Frankfurt schienen den Weg zu einem liberalen Nationalstaat
frei gemacht zu haben. Daher nahm das politische Engagement in den Turnvereinen
im Frühjahr 1848 zu. Die Turnbewegung spielte in der Revolution von
1848/49 nicht zuletzt deshalb eine wichtige Rolle, weil sie über körperlich
geübte, disziplinierte und politisch bewußte junge Männer
verfügte. Schon Jahn hatte gefordert, die Söldner durch Volksheere
zu ersetzen und die Bestrebungen der Volksbewaffnung wurden von der großen
Mehrheit der Turner unterstützt. In vielen Vereinen wurden Turnerwehren
gegründet, die in den politischen Unruhen zum Teil für die Aufrechterhaltung
von Recht und Ordnung, zum Teil für die republikanische Ideen und
die Reichsverfassung eintraten. Auch die Hanauer Turner setzten sich aktiv
für die republikanische Bewegung in Hessen ein. So unterstützten
sie die im Februar 1848 an den hessischen Kurfürsten gerichtete Forderung
nach politischer Mitbestimmung und sie waren auch bereit, sich an der Verteidigung
Hanaus gegen mögliche Angriffe der kurfürstlichen Truppen zu
beteiligen. Die Stadt blieb allerdings unbehelligt, da der Kurfürst
die Forderungen der Hanauer Demokraten akzeptierte. Im Sommer 1848 kam
es zu zahlreichen Krisen, Erhebungen und bewaffneten Auseinandersetzungen,
die die Kräfte der revolutionären Bewegung schwächten. Die
erst im März 1849 verkündete Reichsverfassung ließ sich
ohne militärische Macht nicht durchsetzen. Die Versuche, die Annahme
der Reichsverfassung mit Waffengewalt zu erzwingen, wurden in Dresden,
der Pfalz und in Baden von den preußischen Truppen vereitelt. In
diese Kämpfe waren zahlreiche Turner verwickelt, die mit der Waffe
in der Hand für die Verfassung eintraten. In Baden hatte sich ein
revolutionärer Landesausschuß gebildet, der im Juni 1849 in
Hanau um Unterstützung bat. Daraufhin zog die Hanauer Turnerwehr unter
der Führung August Schärttners mit über 200 Mann nach Baden
und stellte sich den revolutionären Truppen zur Verfügung. Die
Hanauer Turner waren an verschiedenen Gefechten mit kurhessischen und preußischen
Truppen beteiligt. Nach dem Sieg der Reichstruppen flohen viele Turner
in die Schweiz, manche emigrierten von dort nach England oder in die USA.
Scheitern der Revolution
Das Scheitern der Revolution beendete den Aufschwung des Turnens und
vor allem auch das politische Engagement der Turner. Aufgrund der in mehreren
deutschen Ländern 1850 erlassenen Versammlungs- und Vereinsgesetze
wurden manche Turnvereine verboten, andere polizeilich überwacht,
manche lösten sich selbst auf.
Während der Demokratische Turnerbund von der Bildfläche verschwand,
überlebte der Deutsche Turnerbund, wenn auch sehr geschwächt,
den Niedergang der Turnbewegung. Sein Vorsitzender folgte 1860 dem "Ruf
zur Sammlung" und nahm am "Deutschen Turn- und Jugendfest" in Coburg teil,
auf dem erneut die Vereinigung der Turner im deutschen Reich in die Wege
geleitet wurde.
Die Turnfeste in Berlin (1861) und Leipzig (1863) wurden Massenturnfeste
ungeahnten Ausmaßes. Mehr als 20 000 Menschen turnten in Leipzig,
die Zahl der Turnvereine war inzwischen auf über 1700 mit insg. 170
000 Mitgliedern angewachsen. Leipzig wurde damit Symbol des Aufbaus einer
nationalen Körper- und Bewegungskultur in Deutschland.
Dabei wurden besonders militärische Arten des Turnens favorisiert.
Im Grunde waren sich alle Turnexperten des 19. Jahrhunderts darin einig,
dass das Turnen eine „Vorschule“ für den Wehrmann“ sein sollte, d.h.
dass bereits in Schule und Verein die jungen Männer körperlich
fit gemacht werden sollten, um beim Militär als Soldaten auch ihren
Mann stehen zu können. Dazu gehörte selbstverständlich eine
körperliche Grundausbildung, Kraft, Ausdauer, Schnelligkeit, Geschicklichkeit
und darüber hinaus die Fähigkeit, seinen Körper in jeder
Hinsicht zu beherrschen. Deswegen wurden Disziplin, Ordnung und Gehorsam
betont.
Bei dem Versuch, sich als einzig legitime Form der Bewegungskultur
darzustellen und die staatstragende Bedeutung der eigenen Bewegung zu dokumentieren,
wurde immer wieder die Bedeutung des Turnens für die Wehrerziehung
betont. Zahlreiche Veröffentlichungen, aber auch die Diskussionen
auf Turntagen und Turnlehrerversammlungen drehten sich vor allem in den
60er Jahren um die Frage des Wehrturnens. Symptomatisch ist das Konzept
des Leiters der Stuttgarter Turnlehrerbildungsanstalt Otto Heinrich Jäger,
der fast alle Übungen seiner "Turnschule" mit einem Eisenstab als
Gewehrersatz ausführen ließ, 6 – 10 Pfund schwer. Auch
wenn viele Turner und Turnlehrer das Konzept Jägers ablehnten,
so blieb doch die Wehrerziehung das wichtigste Ziel des deutschen Turnens.
Drill und die Disziplinierung des Körpers galten z.B. Kloss, dem Leiter
der Turnlehrerbildungsanstalt in Dresden, "als unsterblicher Schutzgeist
unseres Volksheeres", als "unentbehrlicher'Bestandteil des Turnens" und
als Voraussetzung zur Förderung der Wehrkraft.
Daneben wurde aber auch das „volkstümliche Turnen“ gepflegt, das
für alle geeignet war und deshalb weniger die schwierigen Geräteübungen
beinhaltete als vielmehr die natürlichen, grundlegenden Übungen
des Gehens, Laufens, Springens, Werfens und Kletterns. Daraus sieht man,
dass dieses stark systematische Turnen häufig weniger mit Bewegung,
Schwung und Lebendigkeit zu tun hatte Als vielmehr mit Haltung und Kraft,
bis hin zur Erstarrung. Aber es war nur ein Teil des gesamten Turnens,
die Turnfahrten und Wanderungen und alle Arten von Kletter- und Balacierübungen
zählten ebenso dazu. Besonders spektakulär war das „Pyramidenbauen“,
das auf die Verbindung der Turner mit den Feuerwehren zurückging.
Denn bei den Feuerwehren wurden die meistens geschickten Turner als Steiger
auf den Feuerwehrleitern eingesetzt; und wenn keine Leiter vorhanden war,
musste man sich eben mit menschlichen Leitern aushelfen. Nicht ausgefallen,
sondern in fast jedem Turnverein beliebt, waren die Pyramiden, kunstvoll
arrangierte "Menschentürme", die nach der Erfindung der Photographie
zu den verbreitetsten Motiven auf Turnvereinsbildern gehörten. Da
die Turnvereine Wirtshaussäle für Feste, Vorführungen, oft
aber auch für ihren Turnbetrieb nutzten, sorgten geschäftstüchtige
Wirte für hohe Säle, um ihren Kunden eine für sie attraktive
Lokalität anbieten zu können.
Daraus entwickelte sich schließlich eine turnerische Kunstform,
die bis heute gern gepflegt wird.
Mit der Reichsgründung 1 871 war eines der wichtigsten Ziele der
Turner, der deutsche Nationalstaat, erreicht. Die 1868 gegründetete
Deutsche Turnerschaft (DT) stellte sich vorbehaltlos in den Dienst des
Deutschen Reiches, die Turnbewegung hatte sich damit von einer revolutionären
zu einer systemkonformen Bewegung gewandelt, die die nationale bis nationalistische
Politik sowie die militaristischen und imperialistischen Bestrebungen des
Deutschen Reiches in vielfältigerweise unterstützte. Die Turner
waren stolz auf das geeinte Deutsche Reich, auf das ersehnte Vaterland.
Die Reichseinigung war nicht durch Reden und Debatten, sondern durch
„Eisen und Blut“, d.h. auch durch körperliche Stärke im Kampf
geschaffen worden. Damit erhielt das Turnen einerseits einen besonders
straffen und militärischen Zug aber auch einen weiteren Ausbau. Die
Vereine erweiterten ihr Übungsprogramm; fast überall wurden neue
Riegen und Vereine gebildet, so also auch in Sindlingen.
Hier wurde zunächst im Hof des Gasthauses „Adler“ geturnt: am
Reck, Barren, Kletter- und Sprunggeräten). Etwas später wurde
der Übungsplatz an das damals noch unbefestigte Mainufer verlegt.
Für die aktiven Mitglieder war der Besuch der 14-tägigen Mitgliederversammlung
und der zweimal wöchentlich festgesetzten Übungsstunden Pflicht.
Wahrscheinlich gab es sogar ein Strafgeld!
Mit der Etablierung des Vereins wuchsen auch die außerortlichen
Verpflichtungen: Teilnahme an Gauturnfesten, dem Feldberg- und Rhönturnfesten
standen auf dem Programm. Auch wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts das
Übungsprogramm erweitert: das Faustballspiel wurde in das Programm
übernommen und bis in die jüngere Vergangenheit sehr erfolgreich
fortgeführt: Gaumeisterschaften 1910 und 1921!
Bild. Faustballer
Höhepunkte des Turnerlebens waren die Turnfeste, die die Intentionen und Prinzipien des Turnens besonders gut widerspiegeln. Zum turnerischen Programm der Turnfeste gehörte im Einklang mit dem Ideal der Turnergemeinschaft das Gemeinturnen. "Bei den Gemeinübungen wird der Einzelne nur als ein Glied einer gesellschaftlichen Einheit mehrerer, als Teil eines Ganzen aufgefaßt." Sowohl bei den Vorführungen von Musterriegen als auch bei den Massenfreiübungen, bei denen alle Turnfestteilnehmer mitmachen sollten, kam es nicht auf große Schwierigkeiten, sondern auf das absolute Gleichmaß/Uniformität der Ausführungen an.
Bild: Massenturnen
Das Wett- oder Preisturnen fand ausschließlich in Form eines Mehrkampfes
statt. Seit 1 880 mussten drei Übungen an den Geräten und drei
volkstümliche Übungen absolviert werden. Um ein systematisches
Training und damit einen in den Augen der Turner ungerechten Vorteil der
Trainierenden zu vermeiden, wurden aus den volkstümlichen Übungen
- Springen, Laufen, Werfen, Heben, Hangeln, Ringen - erst wenige Monate
vor dem Turnfest drei Übungen ausgewählt. Beim Deutschen Turnfest
in Breslau 1 894 einigten sich das Organisationskomitee auf Hochspringen,
Gewichtheben mit beiden Händen und das relativ unbeliebte Tauhangeln.
Sieger waren diejenigen, die bei der Addition der in den 6 Übungen
erzielten Punkte eine Minimalpunktzahl erreicht hatten.
Bei den Gauturnfesten Ende des 19. Jahrhunderts standen folgende Disziplinen
in der Ausschreibung:
Kelsterbach (1888): Reckturnen, Weitsprung, Hochsprung, Stemmen
Lorsbach (1889): Barrenturnen, Weitsprung, Hochsprung, Steinstoßen
Zeilsheim (1890): Reckturnen, Weitsprung, Stabhochsprung, Stemmen
Münster (1895): Reckturnen, Barrenturnen, Stabhochsprung, Pferdturnen
Nach dem Ersten Weltkrieg wurden auch in Sindlingen neue Zeichen gesetzt:
Sowohl die Aktivitäten des Vereins als auch der Übungsbetrieb
erweiterten sich
a) Gründung eines Spielmannszuges
Bild: Spielmannszug
b) verstärkte Jahresaktivitäten
Die Jahresaktivitäten nach dem Ersten Weltkrieg sahen häufig
folgendermaßen aus (hier das Jahr 1921):
- 24 Mitgliederversammlungen
- Teilnahme am Feldbergfest (Abfahrt morgens gegen 5 Uhr!)
- 1 Familienfeier (meist von der Kapelle Westenberger gestaltet)
- 1 Weihnachtsball am 2. Feiertag mit Theaterstücken und Couplets
(Generalprobe jeweils am 1. Feiertag!)
- Tanz am Fastnacht-Samstag
- 1 Preisschießen (1. Preis: 1 Gans; 2. Preis: 1 Ente; 3. Preis:
1 Hase; 4. Preis: 1 Hahn; 5. Preis: 1 Schwartenmagen; 6. Preis: 12 Eier)
- 1 „volkstümliches Wettturnen“ (mit Tanz)
- Teilnahme am Kreisturntag (z.B. Aschaffenburg)
- Teilnahme am Gauturntag
- Gauwanderung (an Christi Himmelfahrt) mit Wettkämpfen
- Teilnahme an den Reichsjugendkämpfen
- „Abturnen“ mit folgenden Aufgaben:
-- Schüler: Übungen an Reck – Barren – Pferd und Freiübung
-- Zöglinge: an 2 Geräten jeweils Pflicht und Kür, Freiübungen,
Freiweit, Freihoch und Kugelstoßen
-- Aktive: Schauturnen
-- Altersriege: Schauturnen
anschließend: Ausklang im Vereinslokal „Zur Krone“
Damit fanden auch mehr und mehr die „volkstümlichen Disziplinen“
Eingang in das Turngeschehen: Stabhoch, Freihoch, Freiweit, Kugelstoßen,
50 und 100 m Lauf, Speer, Diskus, Schleuderball.
Auch das „Abturnen“ wurde durch die Verbindung mit der Durchführung
der Vereismeisterschaften aufgewertet, zumal der dazu geschaffene gesellschaftliche
Rahmen (Tanz im Vereinslokal) Anreize bot.
Andererseits waren die Trainingsmöglichkeiten in den unmittelbaren
Nachkriegsjahren durch Platzprobleme eingeschränkt. Es standen der
Schulhof, die Turnhalle und der sog. „Juxplatz“ zur Verfügung, den
man aber mit dem Fußballverein „Viktoria“ teilen musste. 1923 wurde
eine Regelung gefunden: Der Turnverein konnte den Platz montags, donnerstags
und samstags nutzen. Dafür erhielt die Viktoria 1000 RM pro Spiel
(Inflationszeit), der Eintritt für ein Handballspiel lag bei 100 RM.
c) die Einführung des Frauenturnens
d) die Aufnahme des Handballspiels
Turnen und Frauen
Schon in der Zeit der sogenannten Turnsperre, dem Verbot des Turnens,
in den 30er Jahren des 19.
Jhs. sorgten sich Ärzte und Turnlehrer um die Gesundheit des "schwachen
Geschlechts".
Rückgratverkrümmungen, Bleichsucht und Kurzatmigkeit waren
häufige Gebrechen, die mit den
Lebensbedingungen bürgerlicher Mädchen - ich denke hier nur
das Korsett und den
Bewegungsmangel - in engem Zusammenhang stehen. Die ersten Schriften
über Anmuts- und
Anstandsübungen für Mädchen warben daher auch mit dem
Versprechen, daß auf den Wangen
der Jungfrauen die Rosen und Lilien der Gesundheit blühen und
ihren zarten Gliederbau die
Huldgöttinnen der Schönheit und Anmut schmücken". Mit
anderen Worten: die Mädchen sollten für den "Heiratsmarkt" fit
gemacht werden und das war im 19. Jh. sehr wichtig, bot doch die Ehe die
einzige "standesgemäße" Versorgung in einer Zeit, in der Frauen
von vielen Tätigkeiten und von allen höheren Berufen ausgeschlossen
waren.
Die sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen an der Wende zum
20. Jh. veränderten die
Frauenrolle. Auch bürgerliche Frauen wurden jetzt verstärkt
berufstätig. Gleichzeitig entstanden -
zum Verdruss vieler Turnmänner - die ersten Frauenabteilungen
in Männerturnvereinen, aber
auch selbständige Frauenturnvereine, die häufig von Turnlehrerinnen
initiiert und geleitet wurden.
Insgesamt gehörten 1897 rund 16 000 Frauen den Frauenabteilungen
von Vereinen der
Deutschen Turnerschaft (DT) an, d.h. ungefähr 3 % der Vereinsangehörigen
waren Frauen.
Die Sorge um die Weiblichkeit - Ursachen
Die Ausgrenzung der Frauen aus der Turnbewegung ist auf zahlreiche Faktoren
zurückzuführen
und wurde u.a. mit ästhetischen, medizinischen und moralischen
Argumente begründet: So glaubte
man, daß das Turnen ein breites Kreuz, einen dicken Hals und
breite Hände verursache.
Zahlreiche Übungen galten als schädlich für die Gesundheit
- u.a. sollte jede Erschütterung z.B.
beim Springen vermieden werden, da der weibliche Körper von Natur
aus geöffnet ist und gar
leicht Vorfälle (der Gebärmutter) entstehen können.
Schließlich befürchtete man auch eine Gefährdung der
Schicklichkeit und Sittlichkeit, vor allem bei
öffentlichen Auftritten.
Aus Schicklichkeitsgründen fanden die ersten Turnvorführungen
von Mädchen ausschließlich vor
geladenen Gästen statt. Die Werbewirksamkeit von Turnvorführungen
hatte aber bald zur Folge,
daß das Schauturnen von Mädchen und auch von erwachsenen
Frauen immer selbstverständlicher
wurden. 1894 nahmen Frauen - die Damenabteilung des Alten Breslauer
Turnvereins - dann
erstmals an einem Deutschen Turnfest teil - sie führten in Matrosenkleidern
Hantelübungen vor.
1898 auf dem Deutschen Turnfest in Hamburg waren es schon mehr als
1 000 Turnerinnen
verschiedener Hamburger Turnvereine, die mit Freiübungen und Riegenturnen
die
Weiterentwicklung des Frauenturnens eindrucksvoll demonstrierten. Das
Hamburger
Fremdenblatt (21.7.1898) war überzeugt, daß die Vorführungen
die Vorurteile der "Gegner des
Turnens weiblicher Personen" widerlegt und den Turnvereinen "neue Kräfte"
zugeführt habe.
Ein weiterer entscheidender Faktor für die Möglichkeiten und
Grenzen der Frauen - für ihre
Bewegungsfreiheit im wahrsten Sinn des Wortes - war die Turnkleidung.
Während Mädchen
Mitte des Jhs. beim Turnen lange Wäschehosen und eine gegürtete
Tunika getragen hatten,
forderten Turnpädagogen am Ende des Jhs, daß Turnübungen
vom Mädchenturnen
ausgeschlossen werden müßten, "bei welchen eine besondere
Turnkleidung vorausgesetzt werden
müßte, wenn nicht unschickliche Blößen oder auch
nur Kleiderschäden entstehen sollten"(Lion
1877, S. 78). Das bedeutet, die Turnkleidung sollte mit der unpraktischen
und unbequemen
Alltagskleidung identisch sein: Unverzichtbar war auch beim Turnen
die schmale Taille, die
Zartheit und Zerbrechlichkeit signalisieren sollte und nur durch die
gewaltsame Verformung des
Körpers mit Hilfe des Korsetts erreicht werden konnte.
Übungen, die im langen Rock geturnt und deshalb für Mädchen
empfohlen werden konnten,
waren Frei- und Ordnungsübungen, Reigen sowie Hang-, Stemm- und
Balancierübungen an
feststehenden Geräten. Die Devise war: Kopf oben, Beine unten
und geschlossen.
Als sich der Übungskanon ausweitete, wurden die langen Röcke
immer hinderlicher. Den Rock zu
kürzen, war aber nur beschränkt möglich, weil Konflikte
mit den Moralvorstellungen
vorprogrammiert waren, sobald der Rocksaum über das Knie rutschte.
Wie in anderen
Sportarten entbrannte auch im Turnen nach der Jahrhundertwende der
Kampf um die Hose, die
die notwendige Bewegungsfreiheit garantierte, die aber auf energischen
Widerstand stieß, weil sie
als Tracht der Emanzipation, der leichtlebigen Muse und des Mannweibsports
galt. Angst vor der
Vermännlichung des weiblichen Geschlechts wurde sowohl von Frauen
als auch von Männern
geäußert, wobei in den Argumenten der Männer das Bemühen,
ihre privilegierte Stellung zu
verteidigen und die "Hosen anzubehalten", deutlich wird.
Eine Vorreiterrolle in der Hosenfrage spielte übrigens der 1893
gegründete Arbeiterturnerbund.
Eine Arbeiterturnerin erinnerte sich: Bald wichen "die weiten Pumphosen
und die Turnbluse ...
einer weniger weiten Hose und einem eng anliegenden gestreiften Sweater.
Ohne baumwollene
Strümpfe ging es jedoch nicht ... Als kurz vor dem ersten Weltkrieg
die ersten mutigen
Turnerinnen ... strumpflos zum Turnen antraten, gab es wieder heftige
Auseinandersetzungen, die
jedoch so endeten wie später der Streit: langes Haar oder Bubikopf?
Was beim Turnen hinderlich
war, wurde weggelassen!" (Dierker/Pfister 1991, S. 29).
Als in den 20er Jahren immer mehr Beschränkungen und Hindernisse
für Frauen im Turnen
wegfielen, nahm auch die Zahl der Turnerinnen kontinuierlich zu. So
wurde auch in Sindlingen eine Mädchen- und Turnerinnen-Abteilung aufgebaut.
Inzwischen war das Korsett auf
dem Müllhaufen der Geschichte gelandet, die Damen zeigten Bein,
der Bubikopf war der "Dernier
cri" und das "Sportgirl" wurde zum Idol. Der Frauenanteil in der Turnbewegung
stieg in der
Weimarer Republik auf ca. 20 % (Pfister 1988).
Nach dem zweiten Weltkrieg setzte dann eine kontinuierliche "Feminisierung"
des Turnens ein. Die
Mitgliederzahlen im 1950 gegründeten Deutschen Turnberbund (DTB)
stiegen von circa 900 000
Anfang der 50er Jahre auf über 4,5 Millionen 1997. Der Anteil
der weiblichen Mitglieder wuchs
von 43 % Anfang der 50er Jahre auf 70 % heute.
Die Ursachen dieser Veränderungen können hier nur angedeutet
werden. Sie stehen u.a. mit der
Entwicklung und Ausdifferenzierung der Gymnastik als typischer Frauenaktivität
sowie der
Zunahme freizeitorientierter und zielgruppenspezifischer Angebote in
Zusammenhang. Gleichzeitig
nahm die Attraktivität des Gerätturnens ab.
Mit der Veränderung der Angebote veränderten sich auch die
Mitgliederstrukturen der
Turnvereine bzw. -abteilungen, d.h. die Zahl der Mädchen, der
weiblichen Jugendlichen, aber
auch der älteren Frauen nahm und nimmt kontinuierlich zu, während
sich das Interesse des
"starken Geschlechts" am Turnen langsam aber stetig verringerte. Mit
den Veränderungen in der
Mitgliederrekrutierung wandelte sich dann das Image der Turnbewegung:
Angebote, die sich
offensichtlich an Frauen richten, schreckten und schrecken männliche
Jugendliche und Männer von
einer Teilnahme ab. Zudem gelang es bis jetzt nicht, die Bereiche Gymnastik/Aerobic,
Fitness und
Gesundheit auch Jungen und Männern "schmackhaft" zu machen, obwohl
für sie gerade
Aktivitäten im Entspannungs- und Gesundheitsbereich mindestens
ebenso wichtig wären wie für
Mädchen und Frauen.
Wegbereiter für die turnerische Emanzipation waren die Arbeiterturnvereine,
die von sozialistischen Arbeitern getragen wurden, die das nationalistische,
militaristische und sozialistenfeindliche Programm der Turnerschaft nicht
mehr mittragen wollten. Die sozialen Spannungen im eigenen Land, die Ausgrenzung
der „Vaterlandsfeinde“, hatten zur Abspaltung geführt- . Sozialistische
Arbeiter waren die Außenseiter der wilhelminischen Gesellschaft und
sie wurden bekämpft. Das „Sozialistengesetz“ (1878) war dazu ein wesentlicher
Schritt. Auch die Turnvereine wollten keine Sozialisten in ihren Reihen.
Nach dem Ende der Verfolgung (1890) bildeten sich rasch eigene Arbeiterturnvereine,
die nicht mehr der Deutschen Turnerschaft angehörten. So gründete
sich 1893 der Deutsche Arbeiterturnerbund (ATB): Dieser appellierte ganz
bewusst an das Klassenbewusstein der Arbeiter in den bürgerlichen
Turnervereinen, um sie zum Eintritt in den ATB zu bewegen: „Wie könnt
ihr auf der einen Seite in Gewerkschgaften und anderen Organisationen tätig
sein und Opfer bringen und auf der anderen Seite die Herde bilden für
Personen, die für euer Leiden, für eure Interessen kein Gefühl
und kein Verständnis besitzen. Weist es von euch, als blinde Weerkzeuge
missbraucht zu werden gegen die Arbeiterturnbewegung, rafft euch doch endlich
einmal auf und kämpft mit uns, aber nicht gegen uns.“
Diese Tradition der „Freien Turnerschaft“ wurde 1933 durch die Nationalsozialisten
jäh beendet.
b) Wie oben erwähnt richtete der TVS 1922 eine Handballmannschaft
ein, die den Sportgedanken in den Turnverein brachte.
Den Sportvereinen haftete bisher das Attribut „englisch“ an. Was war
Sport? Es waren Spiele: Fußball, Cricket, Golf und Tennis. Es handelte
sich meistens um kampfbetonte Spiele im Freien oder es waren Spiele, die
in den höheren gesellschaftlichen Schichten betrieben wurden. Fußball
war in allen Kreisen beliebt und das krasse Gegenteil von dem, was die
deutschen Turner als pädagogische Leibesübung betrachteten: Es
war wild und – auf den ersten Blick – völlig ungeordnet, keine Spur
von systematischer Körperschulung war zu erkennen, sondern einseitige
und extreme körperliche Anstrengungen, harter kämpferischer Einsatz
und dazu die lauten Anfeuerungsrufe der Zuschauer.
Der Stuttgarter Gymnasialprofessor Jäger bezeichnete 1898 das
Fußballspiel als „Fußlümmelei“. Jäger meinte, dass
der „Hundstritt“ dazu da sei, bissige Köter zu verjagen, aber nicht
für ein Ballspiel tauge. „Dieses Hundstritts halber, der beim Fußballspiel
eine so große Rolle spielt, da aber auch wegen der vorgebeugten,
erbärmlichen Haltung, in welcher hier der Spieler dem Ball entgegen-
und nacheilen, verabscheue ich das Fußballspiel. Es sollte auf keinem
deutschen Turnplatz Eingang finden.“
Das Spiel verbreitete sich auch auf dem Kontinent, wodurch sich bald
in vielen Vereinen eigene Spiel- und Sportabteilungen bildeten, die nicht
mehr das klassische Männerturnen mit Frei- und Gerätübungen,
mit volkstümlichen Übungen und Wanderungen pflegten, sondern
die auch sportliche Wettkampfspiele betrieben und gegen andere Mannschaften
um Meisterschaften spielen wollten.
Das Handballspiel wurde nun – trotz vereinsinternen Widerstands – mehr
und mehr das Aushängeschild des Turnvereins. Unter Lorenz Hescher,
Heinrich Pickel, Walter Rosin, Anton Glatt und Erich Fuhrmann wurde eine
schlagkräftige Truppe aufgebaut, die 1931 Gaumeister wurde.
Bild: Handball
Parallel dazu hatten auch die Freien Turner seit 1929 zwei Mannschaften,
deren selbstständige Entwicklung aber durch die Ereignisse 1933 abgebrochen
wurden. Erst nach dem 2. Weltkrieg startete man einen Neuanfang (unter
Karl Wehner), der 1965 mit der A-Klassen-Meisterschaft gekrönt wurde
Die Leichtathletik (Laufen, Springen und Werfen) wurden seit langem
unter der Bezeichnung „Volksturnen oder Volkstümliche Übungen“
in den Turnvereinen betrieben. Hier lag aber die Zielsetzung anders: Wurde
im Turnen der Mehrkampf der Riege bewertet, so ging es in der Leichtathletik
um Einzelsieger und um spezialisierte Athleten in einzelnen Disziplinen,
die ihren Ehrgeiz darauf richteten, nicht nur besser zu sein als der unmittelbare
Konkurrent, sondern auch nach absoluten Rekorden strebten. So waren die
Olympischen Spiele Sportfeste, die Turnfeste dagegen Nationalfeste, die
gerade in der Weimarer Zeit aufblühten, als Deutschland sowohl 1920
als auch 1924 von der Teilnahme an den Olympischen Spielen ausgeschlossen
blieb.
Einen Ersatz boten die Deutschen Turnfeste: über 200 000 Teilnemer
1923 auf dem Turnfest in München, gedeutet als „Symbol der nationalen
Widerstandskraft und Selbstbehauptung Deutschlands“. Auch Jahn feierte
in den 20er Jahren eine Reaktivierung: Auf Antrag der DT – Führung
wurde er in die „Walhalla“ aufgenommen.
Das Turnfest 1933 in Stuttgart erhielt aufgrund der politischen Veränderungen
einen neuen Akzent. Schon im Vorfeld, bei der Auswahl des Veranstaltungsortes,
zeigten sich Verschiebungen. Stuttgart stand in Konkurrent zu Breslau,
das über ein nationales Turnfest den völkischen Gedanken im Osten
festigen wollte. Auch Anton Hegele warb für Stuttgart,, indem
er die „völkische Bedeutung dieser Stadt für einen möglichen
Ernstfall mit Frankreich betonte. Und tatsächlich bekam die Schwabenmetropole
den Zuschlag. Durch die Machtergreifung Hitlers veränderten sich die
Rahmenbedingungen. Die Nazis setzten nämlich im Rahmen der Gleichschaltung
einen „Reichssportkommissar“ ein, Hans von Tschammer und Osten. Und tatsächlich
wurde den Nationalsozialisten der Weg in die Deutsche Turnerschaft leicht
gemacht. Der Turnerjugendführer Edmund Neuendorff brachte den DT auf
NS-Kurs. Es wurde bereits im April 33 verfügt, dass in allen Vereinen
Wehrturnen eingeführt werden müsste; das Führerprinzip habe
ebenfalls in den Vereinen zu gelten; die Vereine müssten auch von
marxistischen Elementen gereinigt werden; auch die Arisierung sei bis zum
Turnfest durchzuführen. Auf diesem Turnfest sollte Hitler eine ergebene
und judenfreie Turnerschaft präsentiert werden. Der Reichskommissar
übernahm dann schließlich die Führung in der Turnerschaft,
so dass deren Auflösung bzw. Einbindung als Fachamt für Geräteturnen
und Turnspiele im Deutschen Reichsbund für Leibesübungen, dem
verordneten Einheitssportverband im DrittenReich.
Das Turnfest in Stuttgart war damit in den Sog der aktuellen Politik
geraten. Zwar wurden einerseits Qualität und Kontinuität der
turnerischen Arbeit der Vereine gezeigt, auch die Öffnung für
Wettkampfsport (z.B Tennisturnier!) und für Mädchen und Frauen;
andererseits zeigten sich die Veränderungen: „Mannschaftswehrkampf“
der Turnerjugend mit Hindernislauf, Keulenwerfen und Luftgewehrschießen
in SA-Uniformen!
Neben dem Turnerkreuz mit den 4 roten F bestimmte das Hakenkreuz die
Szenerie. Die Einweihungsfeier des neuen Stadios „Adolf-Hitler-Kampfbahn“
wurde von SA und SS-Abteilungen gestaltet. Die patriotischen Reden, die
die Turner früher kennzeichneten, wurden gesteigert: „Turner sollen
den gesunden soldatischen Geist der braunen Armee aufnehmen“. (Tschammer)
Der Höhepunkt war dann auch der Auftritt der politischen Prominenz:
Hitler und Papen und Goebbels erschienen in Stuttgart. Er betonte die Kraft
der Turner: „Nicht allein das Wissen zählt im Dritten Reich, sondern
auch die Kraft“. Als er am Ende zu einer Schweigeminute für Jahn aufforderte,
stellte er sich in die Tradition der Turnbewegung.
Die Nazis drängten in den folgenden Jahren die Rolle der Turner
zurück:
- Der Einfluss der Turnvereine auf Kinder und Jugendliche sollte begrenzt
werden. Außerschulische Jugenderziehung war Sache der HJ und des
BDM
- Sowohl SA als auch die Deutsche Arbeitsfront boten Sport an
So sank die Zahl der Vereinsmitglieder von ehemals 6 Mill auf ca. 2
Millionen
Damit überrascht es auch nicht, dass sich im April 1936 die Deutsche
Turnerschaft selbst auflöste! Die Vereine im Ort blieben zwar bestehen,
aber sie verkümmerten meist zu einem kleinen Kreis treuer Anhänger,
die die Vereinsgemeinschaft fortführten .
Nach dem Kriege begannen schon bald wieder turnerische und sportliche
Aktivitäten in den Dörfern und Gemeinden. Der Aufbau der Vereine
vor Ort erfolgte in der Regel in Anknüpfung an alte Vereinstraditionen,
wobei aber die Besatzungsmächte manches argwöhnisch beobachteten.
Einerseits waren sie der Auffassung, dass Turnen und Sport und die Vereine
und Verbände ein „mächtiges Werkzeug zum Verbreiten von Nazilehren
und Einprägung von Militarismus gewesen sei“ (so Anweisung Nr. 17
der Britischen Militärregierung), andererseits wussten die Alliierten
auch, dass der Sport in ihren Ländern ein Mittel der Erziehung zur
Gemeinschaft darstellt. Überregionale Verbindungen wurden nicht geduldet,
auch nicht Sportarten, die militärischen oder militaristischen Charakter
hatten (Kampfsport). Aber auch das Turnen stand in Verdacht, militaristisch
zu sein. Die Kontrollratsdirektive Nr. 23 über „Beschränkung
und Entmilitarisierung des Sportwesens in Deutschland“ gestand den Turn-
und Sportvereinen zwar zu, keine Naziorganisationen im engeren Sinne gewesen
zu sein, aber sie waren Mitglied im NS Reichsbund für Leibesübungen“.
Zum Zwecke der Gesundheit, der Hygiene und der Erholung erlaubte die Direktive
die Neugründung der Turn- und Sportvereine, mussten aber von den Kontrollbehören
genehmigt werden.
Für viele Turner war die Spaltung der Turnbewegung mitverantwortlich,
dass das Turnen Instrument der NS-Politik werden konnte. Deswegen galt
als wichtiges Ziel, die Wiedererlangung der Einheit der Turnbewegung. Meist
ergriffen die ehemaligen Arbeiterturner (politisch unbelastet) die Initiative
zur Wiederbelebung des Vereinssports.
Am 2. September 1950 wurde schließlich der Deutsche Turner-Bund
in Tübingen gegründet. Vorsitzender wurde Dr. Walter Kolb. Ihm
war es zu verdanken, dass zahlreiche Streitigkeiten der Turner ausgeräumt
werden konnten und dass die Alliierten der Gründung eines Dachverbandes
zustimmten. Die Turnbewegung nach 1945 ging nun in der Einheitssportbewegung
des Deutschen Sportbundes (DSB) auf und büßte im Vergleich zu
früher an Macht und Einfluss ein. So kommt z.B. das Wort „Turnen“
kommt z.B. in der Satzung des DSB nicht mehr vor (DDR: Deutscher Turn-
und Sportbund). In der BRD setzte sich nach 1945 als Überbegriff für
alle Formen und Inhalte organisierter Leibesübungen der Begriff „Sport“
durch.
Für den Sindlinger Turnverein war die Einführung des Tischtennisspiels
im Jahre 1950 ein weiterer Schritt zur Modernisierung. Dieser Schritt war
aber mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden, da Tischtennis großen
Raumbedarf hat. Nach Überwindung vieler Schwierigkeiten konnte die
Herrenmannschaft bereits 1957 in die Bezirksklasse, 1959 in die Gruppenliga
und 1963 gar in die hessische Landesliga aufsteigen. Ellmar von Eschwege,
Paul Jung, Willi Hennemann, Günther Quadflieg, Alfred Diefenhardt
und Manfred Marscheider gelang dieser spektakuläre Erfolg, der aber
nicht lange vorhielt, so dass in den folgenden Jahren sehr unterschiedliche
Erfolge zu verzeichnen waren.
Dagegen blieben viele Formen erhalten:
- Banner – Übergaben
- Feierstunden und Kundgebungen
- Festzüge
- Freiübungen; Gerätturnen, volkstümliche Übungen
Andererseits gab es auch Neuerungen:
- kein Wehrturnen mehr
- Frauen und Mädchen eroberten zunehmend die Vereine
- das Kunstturnen gewann an Bedeutung
- volkstümliche Zielsetzung, d.h. sowohl breites Angebot an Leibesübungen
und Öffnung für alle
d.h. Spagat zwischen Breiten- und Spitzensport
Hierzu dient insb. die „Sportwerbewoche“, die seit dem 100jährigen
Jubiläum durchgeführt wird!
b) Das Indiacaspiel löste das über lange Jahrzehnte sehr
erfolgreich betrieben Faustballspiel ab
- Ausbau des Kinder- und Jugendturnens, heute eher als freies und spielerisches
Bewegen; seit 60er Jahre als „Mutter-und-Kind_Turnen erweitert
- Seit den 70er Jahren:
- Sport für Freizeit und Gesundheit; Konkurrenz der Vereine durch
gewerbliche Sporteinrichtungen
Þ starke Umstellung auf Gymnastik (gesundheits- oder fitneßorientiert)
Kehrseite: Die Grund- und Kernsportarten Gerätturnen verliert
an Bedeutung
Turnen heißt heute Gymnastik, Fitneß- und Gesundheitssport
(Gymnaestraden)
Turnen im NS
Wie die anderen Sportverbände war auch die Deutsche Turnerschaft mit Begeisterung und ohne erkennbaren Widerstand in den eigenen Reihe in das 3. Reich marschiert. Bereits am 23. März