Der 1. Juli ist ein schicksalsträchtiges Datum:
Am 1. Juli 1997 wurde Hongkong wieder Teil der VR China -
am 1. Juli 1917 (!) wurde Sindlingen Teil der Stadt Höchst!!
„Nun ist das Werk dreijähriger mühevoller Arbeit zur Vollendung
herangereift. Die alte Stadt am Mainstrom mit ihrer mehr als tausendjähriger
Geschichte breitet die Schwingen aus zu neuem Fluge glanzvoller Entwicklung
und wirtschaftlicher Kraft. Aus engen Mauern, einzwängenden Schranken
wächst sie hinaus in die Weite, umspannt mit ihren Armen neues Gefilde
für neue jungfrische Betätigung." Mit diesen pathetischen Worten
begrüßte das Höchster Kreisblatt am 2. Juli 1917 den Zusammenschluß
der Stadt Höchst mit den Gemeinden Sindlingen, Zeilsheim und Unterliederbach.
Mit der Verfügung vom 24. Mai 1917 hatte der damalige Regierungspräsident
Dr. von Meister „Auf Grund Allerhöchster Ermächtigung" die Genehmigung
zur Vereinigung der Landgemeinden mit der Stadtgemeinde Höchst zum
1.7.1917 erteilt. Die Hintergründe führte das Kreisblatt auch
weiter an: Die Eingemeindung der Nachbargemeinden waren für Höchst
als Sitz „der machtvoll aufblühenden Industrie" eine zwingende Notwendigkeit,
um Bebauungsgelände zu erwerben. Andererseits sahen auch Vertreter
der o.g. Gemeinden im Zusammenschluß mit Höchst eine Entwicklungsperspektive,
wobei das HK die Stadt eher als den „gebenden Teil", die Dörfer als
„empfangende Teile" betrachtet.
Während Höchst nun Bau- und Industriegelände erwartete,
zumal der Handel mit Hilfe des Schiffsverkehrs weiter zunehmen werde, sollten
die neuen Stadtteile vom „pulsierenden Leben Höchsts" angeregt werden.
Die eigentliche Feier am Abend des 1. Juli verlief in schlichtem Rahmen.
Der Oberbürgermeister Dr. Janke hob in seiner Rede in der „Schönen
Aussicht" besonders die Verdienste von Meisters hervor, der sich für
die Eingemeindung stark engagiert habe. Er beschrieb dabei auch sogleich
die Aufgaben, die die Stadt Höchst nun umsetzen müsse: Kanalisation,
Kläranlage, Straßenbau, elektrische Bahnen, Parkanlagen usw.,
aber insb. Wohnungsbau, was durch die Anstellung eines erfahrenen Stadtbaurats
gezeigt werden soll.
Für die neuen Gemeiden dankte der Zeilsheimer Bürgermeister
Fleck der Stadt Höchst für „das Entgegenkommen in der Frage der
Gehaltsregulierung und ... für eine gewisse Rückwärtsbewegung
der Steuerschraube." Die Haltung der ehemals selbständigen Gemeinden
faßte Fleck zusammen: „Aber so wenig er den Main in seinem Lauf aufhalten
könne, so wenig lasse sich auch die von den Verhältnissen der
Zeit gebotene Entwicklung aufhalten."
Zum Abschluß der Veranstaltung wurde vom Magistrat angekündigt,
zur Feier des Tages „allen heute im Kreise Geborenen und allen heute Getrauten
ein Geschenk von 100 Mark" zu überweisen.
In der Stadtverordnetensitzung am 2. August 1917 wurden dann auch die
Sindlinger Vertreter mit Ämtern versehen: Dr. Kränzlein wurde
zum unbesoldeten Stadtrat gewählt, August Scheh in den Bau-Ausschuß,
Johann Schäfer in das Kuratorium der Kaufmännischen Fortbildungsschule
und in die Stadtbildkommisssion, Friedrich Möhner in die Kanal-, Wilhelm
Seidelberger in die Schwimmbad-Kommission.
Was regelte der Vertrag?
Das Ziel des Zusammenschlusses der Gemeinden bestand in der Hebung
der „Wohlfahrt und zum weiteren Gedeihen beider Orte, insbesondere zur
Durchführung großer gemeinnütziger Aufgaben". Dazu wurden
in dem 11-seitigen Dokument viele einzelne Aspekte des öffentlichen
Lebens festgeschrieben:
- Die Verwaltung der Gemeindeangelegenheiten liegt in der Kompetenz
der Stadt Höchst,
wobei eine örtliche Verwaltungsstelle, Steuerhebestelle,
Ortsgericht und Standesamt in
Sindlingen bestehen bleiben. (§ 4);
- Die Beerdigungen sollen unentgeltlich sein (§ 4);
- Sindlinger Lehrlinge können die kaufmännische Fortbildungsschule
in Höchst besuchen;
ebenso sind die Sindlinger Kinder beim Besuch der höheren
Knaben- und Mädchenschule
den Höchstern gleichgestellt (§ 5);
- Ausdehnung des Schlachthauszwangs auch auf Sindlingen (§ 6);
- Gleichstellung der Bürger beim Strom-, Wasser- und Gaspreis
(§7)
- Schaffung einer elektrischen Straßenbahn zwischen Sindlingen
und Höchst (§ 8);
- Vermehrung der Schrebergärten (§ 11);
- Reinigung der Ortsstraßen mittwochs und samstags auf städtische
Kosten (§ 11);
- Anlage einer größeren Parkanlage am Main östlich
des Dorfes; außerdem soll ein Kohlenaschenweg von der Höchster
Straße nach der Pfingstbornstraße angelegt werden (§11);
Interessant sind dabei die im Anhang des Vertrages aufgeführten
Verwaltungsregelungen:
- Versorung der ehemaligen Gemeindeangestellten:
- - Sekretär Müller wird Bezirksvorsteher, Standesbeamter
und Ortsgerichtsvorsteher
- - Gemeinderechner Katzenbach wird von der Stadt Höchst übernommen
- - Die Gehilfen Sittig und Hebauf werden ebenfalls übernommen
- - Die Polizeibeamten Carell und Rendel werden weiter in Sindlingen
eingesetzt, ebenso der Feldhüter Spengler.
(Dabei ist auffallend, daß alle Beteiligten offensichtlich eine
finanzielle Besserstellung erfuhren.)
- Bauverwaltung: Pflasterung der Staatsstraße zwecks Beseitigung
der Staubplage;
- Umpflasterung der Schulstraße als einer historischen Straße
- Besprengung der Straßen durch einen neuen Sprengwagen
- Schaffung zweier Bedürfnisanstalten mit Spülung, wobei
eine davon an der Landstraße größer und „in hübscher
Ausführung" erfolgen soll.
- Kostenlose Feuermeldeanlage in Sindlingen; Steigerturm mit Wagenhalle
für die Feuerwehr
- Zeitgemäßer Ausbau des schlechten Bahnhofsgebäudes
- Anstreben einer Apotheke für Sindlingen
- Freie Turnhallenbenutzung, aber Kostenerstattung für Beleuchtung
und Heizung
Unterschrieben wurde dieser Vertrag auf Sindlinger Seite durch den
Bürgermeister Huthmacher, die Schöffen Dr. Kränzlein und
Fr. Möhner und den Beigeordneten Joh. Schäfer.
Für die Höchster Seite: Dr. Jahnke als Oberbürgermeister;
Moock als Beigeordneter und Dr. Weidlich als Stadtrat.
Einige Höchster Stadtverordneten waren über diese Vertragsregelungen nicht begeistert. Die Zubilligung niedriger Steuersätze, verbunden mit infrastrukturellen Leistungsversprechungen für die Gemeinde bereitete manchem Höchster Politiker Kopfweh. Aber die - trotz des Krieges - gute finanzielle Lage der Stadt erlaubte offensichtlich manches Zugeständnis. So betonte der Höchster Stadtverordnete Ettinghausen, daß Höchst den Orten „ein großes Opfer bringe, die Gemeinden selbst aber nur mit einer kargen Mitgift kämen". (HK, 31.1.17). Entscheidend blieb die Aussicht auf die Verfügung über ca. 1700 Hektar Land.
War die Eingemeindung richtig?
Mit dem 1. Juli 1917 endete eine Diskussion, die Sindlingen seit Jahren
in zwei Lager gespaltet hatte. Bereits im Wahlkampf 1908 spielte die Frage
der Eingemeindung eine wichtige Rolle. Eine „Bürgerpartei" (J. Frank,
L. Schwärzel, L. Nix) warnte vor der Eingemeindung, da höhere
Steuersätze zu befürchten seien und die Gemeinde finanziell gesund
sei, während die „Fortschrittspartei" (J. Merz, A. Schmidt) - von
Gegnern als „Farbwerkspartei" bezeichnet - auf die Vorteile eines Zusammenschlusses
mit der Stadt hinwies. Die Nutzung des infrastrukturellen Angebots sei
für Sindlingen von großem Vorteil.
Damit spielte die „Fortschrittspartei" auf eine Entwicklung an, die
am Ende des 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts unübersehbar war:
Die zunehmende wirtschaftliche Bindung der beiden Orte mit einem eindeutig
Höchster Übergewicht!
Die wirtschaftliche Entwicklung
Nicht nur die Gründung der Firma „Meister, Lucius & Co.",
der späteren „Farbwerke Hoechst", auch die Kanalisierung des Untermains
1883 - 85 und der Bau bzw. die Modernisierung von Eisenbahnverbindungen
(die Bahnlinie von Frankfurt nach Wiesbaden war bereits 1840 eröffnet
worden) schufen neue Arbeitsplätze, so daß die Bevölkerungszahlen
stark anstiegen. In Sindlingen lebten 1910 bereits ca. 4000 Menschen, während
Höchst bereits auf die stolze Zahl von ca. 17000 Einwohnern blicken
konnte. Dies war die Folge einer großen Binnenwanderung in die aufkommenden
städtisch-industriellen Zentren. Die Leitsektoren des Industrialisierungsschubs
waren die Chemie- und Metallindustrie. Für unsere Region war natürlich
die 1863 gegründete Farbwerke der Magnet.
Die Ausbildung der Sindlinger Infrastruktur
Sindlingen unterstand zwar dem 1885 geschaffenen Landkreis Höchst,
verwaltete sich aber ansonsten selbst. 1875-88 hatte Andreas Schmitt das
Bürgermeisteramt inne, ihm folgte 1888 Franz Joseph Huthmacher, der
diese Tätigkeit bis zur Eingemeindung ausübte. In diese
Epoche fielen so wichtige „Baumaßnahmen" wie
- die Schaffung eines „Landeplatzes zum Aus- und Einladen von Gütern"
am Main (1886),
- die Errichtung einer Fuhrwerkswaage (1892) am „Dalles",
- die Eröffnung der Eisenbahnhaltestelle Sindlingen-Zeilsheim
(1893),
- die Verlegung einer „endlos langen" eisernen Kette im Main, an der
sich ein dampfgetriebener Kettenschlepper mit seinen Lastkähnen flußaufwärts
ziehen konnte (insg. 4,7 Mill. armdicke Kettenglieder zwischen Mainz und
Würzburg). Die Kettenschiffahrt wurde Ende der 20er Jahre eingestellt,
die Kette selbst 1938 aus dem Fluß gezogen.
- die Errichtung einer Hochseilfähre nach Kelsterbach (1906),
- der Anschluß Sindlingens an die Trinkwasserleitung der Stadt
Höchst (1909),
- der Bau der „Villenkolonie" (1910),
- die Versorgung der Gemeinde mit Leucht- und Heizgas (1910) bzw. elektrischem
Strom (1911),
- Baubeginn der Ortskanalisation mit Anschluß an die Höchster
Kläranlage
Gerade die letzten Maßnahmen zeigen, daß Höchst doch mehr und mehr der prägende Einflußfaktor wurde. Von daher denke ich, daß die „Eingemeindung" eher den Charakter eines „Zusammenschlusses" hatte, bei dem die Sindlinger Gemeindeführung eine gutes Verhandlungsergebnis erzielte. Wo hat die Sindlinger Bevölkerung Nachteile erfahren? Man muß bei der Bewertung des Vertrages bedenken, daß ja bereits 1928 dann die Eingemeindung der Stadt Höchst mit ihren Stadtteilen nach Frankfurt erfolgte, was wiederum einen neuen Rechtsrahmen setzte. Sicher, Sindlingen verlor seine politische Selbständigkeit; aber war diese in Anbetracht der dynamischen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung überhaupt noch zu halten?
Sindlinger Heimat- und Geschichtsverein e.V.
Dieter Frank